Teil C
Langfristige Planung
1. Das Projekt "Naturlandschaft
Sihlwald"
Die Idee im Sihlwald eine "Naturlandschaft"
entstehen zu lassen, wurde von Stadtforstmeister Andreas Speich erstmals
im August 1985 an einer Konferenz der Direktoren des Bauamtes unterbreitet,
welche Szenarien für zukunftsgerichtete Schritte zum Thema hatte.
Obwohl die skizzierte Entwicklung für viele Politiker, Fachleute und
Laien damals neu und ungewohnt war - oder vielleicht gerade deshalb -,
weckte sie reges Interesse. Inwischen ist viel über das Vorhaben 'Naturlandschaft
Sihlwald' diskutiert worden und aus der Idee ist ein konkretes Projekt
geworden.
Kernpunkt des Projektes 'Naturlandschaft Sihlwald'
(im folgenden als 'NLS' abgekürzt) sind folgende Absichten und Ziele:
- Der Sihlwald wird langfristig voll und ganz seiner natürlichen Entwicklung überlassen. In einer Übergangszeit sind naturferne Bestände mit gezielten Massnahmen in Naturwald überzuführen.
- Der Sihlwald wird zu einem Ort des Naturerlebens für die Menschen
- Der Sihlwald erhält einen möglichst hohen Schutzstatus. Geschützt wird in erster Linie die Dynamik der Waldentwicklung. Ziel ist nicht ein Naturschutz des Bewahrens, sondern des Beobachtens und Mitverfolgens
- Die natürliche Walddynamik im Sihlwald wird Gegenstand ökolgischer und forstlicher Forschung
- Eigenwert des Waldes: Der Mensch ist geneigt hinter allem einen Nutzen zu sehen. Die Lebensgemeinschaft Wald hat aber ihre Existenzberechtigung ganz unabhängig von menschlichen Perspektiven. Im Sihlwald soll der Eigenwert des Waldes in höchstem Masse respektiert werden.
- Ethisches Argument: Die Natur, Natur sein zu lassen, ist der höchste Schutz und Respekt, den wir ihr zu kommen lassen können. Angesichts der flächendeckenden Beanspruchung der Landschaft durch den Menschen, ist es mehr als gerechtfertigt, bescheidene 1000 ha Wald sich selbst zu überlassen.
- Lernen von der Natur: Für die naturgemässe und nachhaltige Nutzung von Naturgütern, insbesondere des Waldes, sind Kenntnisse über die natürlichen Vorgänge und die natürliche Dynamik wichtig. Diese Beobachtungen können nur an sich selbst überlassenen Wäldern gemacht werden. Gerade das Entlassen eines ehemals genutzten Waldes in die freie Waldentwicklung ermöglicht interessante und wichtige Beobachtungen.
- Naturbewusstsein: Das Erfühlen und Erleben ungestörter Waldnatur, hinterlässt schöne und unvergessliche Eindrücke. Vorallem im städtischen Raum, wo der Kontakt zur Natur nichts alltägliches mehr ist, ist es von grosser Bedeutung, den Menschen in nächster Umgebung, die Faszination und Schönheit eines Waldes vor Augen zu führen. Das Projekt 'NLS' bietet dazu die besten Voraussetzungen. Indem wir wieder vermehrt lernen, über die Wunder der Natur zu staunen, gewinnen wir den nötigen Respekt vor der Schöpfung zurück, der nötig ist, sich für deren Schutz und Erhaltung einzusetzen.
"Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Gleichheit zwischen Menschen und nichtmenschlicher Natur ... Von da her ist es ethisch geboten, von schützenswerten Rechten der nichtmenschlichen Natur zu sprechen und Regeln anzuwenden, welche in Analogie zu ethischen Regeln unter Menschen stehen.
Der Eigenwert nichtmenschlicher Natur kann zumindest
nicht ausgeschlossen werden, bzw. es ergibt keinen zureichenden Grund dafür,
dass der Mensch etwas abschafft, das er nicht schaffen kann." (Prof. Dr.
theol. H. Ruh, 1986)
"... aber im schönen Sihlwald sagt die Natur,
sie wolle sich aus der forsttechnischen Bevormundung lösen. Sie will
nicht mehr von Menschengeist dialektisch [die Gegensätze aufhebend]
verplant sein. Ein neues dialogisches [im Zwiegespräch verbleibendes]
Verhältnis zwischen Wald und Menschen bringt beiden gesundmachende
Befreiung." (A. Speich in: "Nationalpark, 3/87)
"In einer eher deprimierenden Umweltsituation
(vgl. Waldsterben, Bodenproblematik, aussterbende Arten) kann der Wald
eine hoffnungsvolle Orientierungshilfe bieten. ...Der Wald ist das einzige
noch verbleibende Gross-System mit einigermassen natürlichen Funktionsabläufen.
Der Zeitgeist, der sich in der Landschaft materialisiert, macht allerdings
auch vor dem Wald nicht halt. [Der Wald kann] mit der fortschreitenden
Industrialisierung wegen seiner Eigenart nicht mithalten ... Die Waldwirtschaft
kommt so in eine ganz besondere Verantwortung und darf vor allem auch die
weiteren eminent wichtigen Bedeutungen des Waldes nicht übersehen.
Altkantonsforstmeister Krebs warnte davor, aus einer finanziellen Krise
der Forstwirtschaft in eine geistige hineinzuschliddern." (M. F. Broggi:
Konzept Naturlandschaft Sihlwald, 1986)
"Der Wald ist grundsätzlich als Natur-Areal
zu betrachten und nur mit besonderer Begründung als Wirtschaftsraum.
Der Hauptwert des Waldes liegt in ihm an sich und nicht im abgeleiteten
Nutzen. ... Der Wald hat eine wichtige Nicht-Nutzeigenschaft." (Stadtforstmeister
A.Speich: 55 Thesen zu "Wald und Gesellschaft", 1981)
"Wieviel an sogenannter menschlicher Kultur kann
der Natur zugemutet werden, ohne dass der Mensch als untrennbarer Teil
von ihr seelischen und körperlichen Schaden leidet? Diese Grenze wurde
in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts offensichtlich längst
überschritten. Sichtbares Zeichen dieser Trennung von Mensch und Natur
ist das, was die Soziologie "Entfremdung" nennt. ... In der Natur vermag
der Mensch seine Quellen wieder zu erahnen, sie lässt ihn fühlen,
dass er Teil eines grösseren Gewebes und von diesem abhängig
ist. ... Der einzige Bereich, wo der heutige Mensch noch echte Entspannung
findet, ist die Natur, und zwar Natur, die nicht seinen Stempel trägt,
die nicht amelioriert, von Hecken und Unterholz befreit, von seinem Kampf,
seinem nimmermüden Versuch, sie überall und immer zu beherrschen,
Zeugnis gibt - er braucht unberührte Natur, die in sich ruht und ihn
dadurch seine eigene Ruhe wiederfinden lässt." (B. Lohmeyer, Spezialarzt
für Psychiatrie, 1986)
"Die Erkenntnis, welche die Menschen aus der Natur
für ihre seelisch-körperlich-geistige Verfassung gewinnen können,
fliesst von selbst, wenn man sich im Banne von alten, grossen Bäumen
befindet. ... Sie geben jedem, der es suchen will, das richtige Mass für
die Zeit. Förster lasst alte Bäume stehen!" (A. Speich: 55 Thesen
zu "Wald und Gesellschaft", 1981)
"Der Mensch hat ohne Zweifel eine Sonderstellung in der Natur ... Aus diesem Umstand ist ein Verantwortungszusammenhang abzuleiten, in den der Mensch innerhalb der Natur gestellt ist. Er hat seine zerstörerischen Fähigkeiten zu zügeln, er hat aber auch eine Bewahrungsfunktion.
[Es] drängt sich die Forderung auf, dass
der Beliebigkeit des Menschen im Umgang mit der nichtmenschlichen Natur
Grenzen gesetzt sind. ... In Analogie zu der Idee der Rechtsstaatlichkeit
... ist es sinnvoll, von Rechten der nichtmenschlichen Natur zu sprechen,
die zu schützen der Mensch ethisch verpflichtet ist." (Prof. Dr. theol.
H. Ruh, 1986)
"Man kann hier den ursprünglichen Landeszustand
- Wald - wiederherstellen. Im Sihlwald ist es vom Forst zum Wald kein schwieriger
Weg. ... Zurücknahme der forstlichen Nutzung und Rückbau der
technischen Eingriffe, bis zur Renaturierung des Flusslaufes stehen auf
der Programmskizze. ... Der Wald braucht den Menschen nicht, wohl aber
kann der ungebändigte grüne Hort den Menschen unserer Zeit helfen,
ihre Gedanken zu ordnen. Holz für arge Notzeiten kann er allzumal
noch liefern." (A. Speich in: "Nationalpark", 3/87)
- Der Natur soll sie zur Entwicklung von nachhaltigem Eigenwert verhelfen, (was nicht anders als über den Menschen stattfinden kann).
- Dem Menschen hilft sie zur Selbstfindung, zur Bildung und zur Entspannung.
- Der nichtmenschlichen Natur ermöglicht sie freie Entfaltung.
- Dem Menschen ist sie Aufgabe, sich zu bescheiden,
sich zurückzuziehen und einen Raum zu schaffen, wo nicht er allein
bestimmt, was zu geschehen hat.
Die wichtigsten Eckdaten sollen die Entwicklung von
der Idee zum Projekt 'NLS'aufzeigen:
- August bis November: Informelle Kontakte mit Standortgemeinden,
Kantonsforstamt, Gesamtstadtrat, Naturschutz- und Freiraumkommission der
Stadt Zürich und mit Vertretern von Bund, Kanton, Forstdienst, Hochschulen
und Naturschutz
1986
- Im März liegt das Konzept "Naturlandschaft Sihlwald" (NLS) vor; es wird u.a. der Arbeitsgruppe Waldbau des Schweizerischen Forstvereins vorgestellt
- April: positive Stellungsnahmen von Prof.Dr.Hannes Mayer, Wien, und der "Division de l'Environnement et des Ressources naturelles" des Europarates; Gesprächsrunde mit Sozialethikern und Psychologen
- Mai: provisorischer Start der "Waldschule Sihlwald"
- Juni: Studienfahrt mit Förstern des Sihlwaldes in den Bayerischen Wald, wo 7'000 ha Wirtschaftswald aus der Nutzung entlassen worden sind; ausführliche Aussprache mit dem Oberforstmeister des Kantons und seinen Mitarbeitern
- August: Genehmigung eines Studien- und Planungskredites von Fr.350'000.- durch den Stadtrat
- September: Präsentation des Vorhabens an der kantonalen Forstbeamtenkonferenz
- Dezember: in Beantwortung einer parlamentarischen
Anfrage äussert sich der Regierungsrat des Kantons Zürich negativ
über das Vorhaben
1987
- März: Debatte im Gemeinderat im Zusammenhang mit der Interpellation Angst
- Mai: Orientierungsveranstaltung im Sihlwald mit Gemeindevertretern und anderen Gästen
- Juni: Vergebung der Studienaufträge NLS
- September: Orientierung kantonale Forstbeamtenkonferenz über Projekt und Sihlwaldschule
- November: Exkursion und Orientierung anlässlich 4. Seminar "Wald und Gesellschaft", veranstaltet durch Schweizerischer Forstverein, Fachgruppe Forstingenieure des SIA und Stapferhaus Schloss Lenzburg
- November: Begehung des Projektgebietes mit Vertretern des kantonalen und eidgenössischen Forstdienstes
- November: Wasserbauliche Exkursion mit Vertretern
der kantonalen und eidgenössischen Amtsstellen für Wasserbau
und Fischerei
1988
- Februar: Abschluss Versuchsbetrieb Sihlwaldschule; Vorlage für Weiterführung durch externe Expertengruppe
- Mai: Diskussion und Bereinigung der abgeschlossenen
rechtswissenschaftlichen Studien zum Projekt; Darlegung der übrigen
Arbeiten; Beginn der Rahmenplanung
1989
- Februar: Präsentation des Projekts vor erweitertem Vorstand des Zürcher Naturschutzbundes; dieser beschliesst Unterstützung
- Juni: erfolgreiche Restauration des historischen Sihlwaldfilmes von 1911
- Juli: entgegen Beschluss der Fachjury lehnt Regierungsrat des Kantons Zürich die Berücksichtigung des Projekts NLS im Rahmen der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft ab
- Juli: Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) erteilt Bundesbeitrag von Fr.80'000.- an die Planungsarbeiten
- Oktober: Orientierung und Exkursion mit erweiterter Naturschutzgruppe des Zürcher Kantonsrates
- November: Verleihung des Landschaftsschutzpreises und des schweizerischen Gesamtpreises für Natur- und Landschaftsschutz der Conservation Foundation (London) in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Stiftung für Landschaftsschutz an Stadtforstamt für das Projekt NLS
- Dezember: Abschluss der ökologischen Wertanalyse;
es liegen sämtliche Grundlagenstudien vor
1990
- Mai: Presseorientierung des Vorstandes des Bauamtes über Schwerpunkte der städtischen Legislaturperiode 1990-94, wozu auch NLS gehört
- Juni: Hauptversammlung und Exkursion der Naturforschenden Gesellschaft Zürich; Verabschiedung einer Resolution, in der dem NLS "volle Unterstützung" zugesagt wird
- Juli: der slowakische Urwaldexperte Ing.I.Voloscuk nimmt eine sechswöchige Studie über Möglichkeiten der Nutzungsentlassung im Sihlwald in Angriff
- August: Stadtrat bewilligt Fr.390'000.- als 2. Teil des Planungskredites; Antragstext und Würdigung im Protokoll
- September: Herbsttagung der Schweiz. Arbeitsgemeinschaft der kantonalen Beauftragten für Landschaftsschutz mit Exkursion im Sihlwald
- September: Studienreise von Mitarbeitern SFA und Gästen in die Natur- und Urwälder der Zentral- und Ostslowakei
- Oktober: Begehung der Grabung Schnabelhöfe im Sihlwald mit Archäologen
- Oktober: Expertenbeurteilung von Bächen im
Sihlwald im Hinblick auf mögliches Gefährdungspotential bei Einstellen
des Unterhaltes
1991
- März: Stadtrat nimmt Realisierung der Naturlandschaft Sihlwald in Legislaturziele 1990-1994 auf
- Juni: Ivan Voloscsuk, Direktor Nationalpark Hohe Tatra, CSFR, weilt für Waldbauplanung und Bestandesansprache zwei Wochen im Sihlwald
- Juni: Vorlage des Konzepts für eine Informations- und Bildungsstätte "Sihlwaldhäuser" von P. Egloff und C. Cattaneo
- August: Waldumgang des Stadt- und Gemeinderates im Sihlwald mit Beiträgen von Prof.Dr.F.Klötzli (Hauptreferat), Ingold Wildenauer (Schauspieler) und Dr.hc.A.A.Häsler
- Oktober: Präsentation Studienergebnisse betreffend
Renaturierung der Seitenbäche im Sihlwald durch Dr.H.Weiss und Ing.Steiger
(Büro Basler und Hofmann)
1992
- Mai: An der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Bundes für Naturschutz (SBN) vom 23. Mai 1993 verfasst der SBN eine Resolution für einen Nationalpark Sihlwald, was zu einer Kontroverse mit den Gemeindepräsidenten der Anliegergemeinden führt
- November: Konstituierung einer 'Leitungsgruppe
Sihlwald' aus Vertretern des Stadtforstamtes, des Schweizerischen und des
Zürcherischen Naturschutzbundes (SBN, ZNB) und Vertretern der beiden
Hochschulen.
1993
- Januar: Inkrafttreten des neuen Waldgesetzes des Bundes, welches in Art. 20.3 die Möglichkeit des Nutzungsverzichts ausdrücklich vorsieht
- März: Aussprache des Stadtrates mit Vertretern der betroffenen Gemeinden der 'NLS'
- März: Verfassen eines Grundlagenpapiers über die längerfristig zu erwartenden Auflagen im Projektperimeter
- Juni: Öffentliche Diskussion in Langnau über
die 'NLS'
Der Sihlwald eignet sich wie kaum ein anderes Gebiet für die Realisierung der dargestellten Ideen:
- Im Gebiet des Sihlwaldes findet sich - neben grossflächigen mittleren Buchenwaldstandorten - eine Vielfalt von seltenen Waldgesellschaften.
- Als Reservat eignet sich der Sihlwald vor allem auch deshalb, weil es auf den weitverbreiteten und gutwüchsigen Buchenstandorten bisher in der Schweiz keine ausgesprochenen Naturwälder gibt und damit eine Lücke geschlossen würde.
- Der Sihlwald ist kein Urwald mehr, aber bezüglich Baumartenzusammensetzung doch sehr naturwaldähnlich; für die Rückentwicklung sind gute Voraussetzungen vorhanden.
- Es steht ein für das schweizerische Mittelland einmaliger Gross-grundbesitz von über 1'000 Hektaren zur Verfügung.
- Trotz unmittelbarer Nähe zur grössten schweizerischen Agglomeration und guter Erreichbarkeit kann, wer den Lärm der Sihltalstrasse zu überhören vermag, Abgeschiedenheit und Ruhe erleben.
- Buchenwaldgesellschaften sind auch bei Nicht-Bewirtschaftung von grösster Widerstandskraft gegen Schädlinge und Krankheiten.
- Die Zeit ist reif dafür: die Entfremdung von der Natur hat ein
Mass erreicht, wo breite Bevölkerungsteile den Sinn und die Notwendigkeit
des Projekts einsehen; Umwelterziehung ist ein Gebot der Stunde.
Den Ablauf der Planungsarbeiten NLS zeigt die nachstehende,
vereinfachte Darstellung:
Im Auftrag des Stadtforstamtes Zürich und in
Zusammenarbeit mit diesem wurde von dem BSU (Büro für Siedlung-
und Umweltplanung, Zürich) ein Konzept für die NLS erarbeitet.
In der illustrierten Broschüre, die im Frühjahr 1986 fertiggestellt
wurde, sind Ausgangslage, Zielvorstellungen und Vorgehen skizziert.
Als Idee hinter dem Projekt steht "die naturethische
Dimension des Projektes mit der Darstellung des Eigenwertes der Natur und
der Erschliessung wertrationaler und emotionaler Dimensionen". Absicht
ist es auch, von den bisherigen "Miniaturbiotopen", - "wobei es sich im
allgemeinen um Landschaftsteile handelt, für die der Mensch wenig
Nutzerinteressen entwickelte", - wegzukommen und einen Schritt vorwärtszutun.
Es sollte zum ersten Mal in der Schweiz ein grösserer Wald ausgewiesen
werden, "wo gleichzeitig Neubeginn, Waldverjüngung, Generationenwechsel,
das Sterben und Vermodern von Bäumen zu beobachten" sein werden. Die
NLS soll "eine wohltuende und bereichernde Kontrastwirkung zu der übrigen
zivilisatorisch vollständig besetzten Landschaft vermitteln."
An konkreten Schritten werden im Konzept die
Grundlagenstudien, weitere vertiefende Abklärungen, der Rahmenplan
und eine Terminierung der Arbeiten dargestellt.
Rückblickend ist zu bestätigen, dass das
im Konzept vorgeschlagene Vorgehen ohne nennenswerte Abstriche befolgt
wurde.
1.4.2 Grundlagenstudien
und ökologische Wertanalyse
In den Jahren 1987 und 1988 wurden folgende Grundlagenstudien
über den Sihlwald bereit gestellt:
- Fische und Wirbellose der Fliessgewässer
- Libellen
- Käfer
- Schmetterlinge
- Ameisen
- Amphibien und Reptilien
- Fledermäuse
- Wild
- Vegetation (Pflanzensoziolog. Kartierung, Naturnähe, Waldfreie Standorte, Strukturvielfalt und Waldränder)
- Kulturhistorische Zeugen
- Erholung in der Naturlandschaft
- Forst- und jagdwirtschaftliche Nutzung des Sihlwaldes und ihre Auswirkung auf das Naturlandschaft-Projekt
- Wasserbau & Sicherheit
- Bericht zu allgemein rechtlichen Fragen
Im Anschluss an die Grundlagenstudien wurde 1989
eine ökologische Wertanalyse vorgenommen. Die Wertanalyse beruht
auf den beiden Grundlagenstudien Vegetation (Naturnähe) und Avifauna.
1.4.3 Rahmenplan
und Gestaltungspläne
Die Inhalte des Rahmenplans und der Gestaltungspläne
können wie folgt umschrieben werden:
- Waldplan: an kantonale Vorschriften über
Waldwirtschaftspläne gebundene Beschreibung und Planung der Waldgestaltung
während des nächsten Jahrzehnts im Detail und generell für
einen Langzeitbereich bis ca. 30 Jahre
- Waldlehrhaus, Waldschule und Exkursionsbetrieb:
konzeptionelle Planung für Umwandlung des Werkbetriebareals in eine
Informationsstätte; Weiterführung Sihlwaldschule und Grundlage
für Exkursionsbetrieb
- Sihlraum: Planung zur naturschützerischen
Aufwertung des Flussraumes an der Sihl in Zusammenarbeit mit Amt für
Gewässerschutz und Wasserbau; Verbesserung des Wissensstandes über
die Wildbäche des Sihlwaldes
- Wissenschaftliche Langzeitforschung: Formulierung
von Forschungszielen und Forschungsvorhaben für wissenschaftliche
Langzeitforschung in Zusammenarbeit mit verschiedenen wissenschaftlichen
Institutionen
- Raumplanerische Bezüge: Konzipierung
von Massnahmen für die ökologische Vernetzung und Arrondierung
des Projektes.
Die Realisierung des Projekts beginnt nicht erst
mit der formellen Entlassung aus der Nutzung oder der Reservatsbildung.
Gewisse Vorstufen und Vorarbeiten sind heute schon in Angriff genommen
worden:
- Ein ebenfalls schon ergrautes Begehren, es habe
"an Stelle des gleichaltrigen Hochwaldes ... der ungleichaltrige in Femelschlag-
oder Plenterform zu treten" (aus einem Protokoll des Stadtrates von 1925),
wurde 1986 mit der konsequenten Umwandlung des Sihlwaldes in naturnahe,
plenterartige Strukturen aufgenommen. Es wird damit auf die urwaldähnlichen,
kleinflächig ungleichaltrigen Formen des Naturwaldes hingearbeitet.
- Zur Realisierung der NLS gehört auch die gedankliche
und fachliche Vorbereitung der Mitarbeiter des Stadtforstamtes auf allen
Stufen. Neben Anschauungsunterricht in ausländischen Naturwäldern
(Bayerischer Wald, Slowakische Urwälder) wurde versucht Forstwarte,
Förster, aber auch das Personal auf der Amtsstelle in Exkursionen,
Vorträgen sowie in der Anleitung zur täglichen Arbeit mit der
Denkweise vertraut zumachen, die für die Gestaltung der 'NLS' notwendig
sein wird.
In einer Resolution zur Naturlandschaft Sihlwald aus Anlass der Delegiertenversammlung
des Schweiz. Bundes für Naturschutz (SBN) vom 23. Mai 1992 will sich
der SBN dafür einsetzen den Sihlwald zum Nationalpark zu erklären.
Damit wurde die Nationalpark-Diskussion zum Vorhaben'NLS' eröffnet.
In einem internen Diskussionspapier zur Nationalparkfrage (Broggi M.) wird
aufgezeigt, dass der Sihlwald und das Projekt 'NLS' die generellen, internationalen
Anforderungen an den Status Nationalpark erfüllen könnte.
Die Diskussion um die Nationalparkfrage ist noch offen. Pro und contra werden noch gründlich gegeneinander abzuwägen sein. Im besagten Diskussionspapier werden unteranderem folgende Argumente für und gegen den Status 'Nationalpark' aufgeführt:
- Problem der Akzeptanz in der regionalen Bevölkerung mit Ängsten der Beschränkung der Erholungsmöglichkeiten
- Ankurbelung eines verstärkten Naturtourismus; Problem der Grössenverträglichkeit
dafür:
- Besserer Schutzstatus, verbesserte Möglichkeiten Störungen und Belastungen abzuwehren
- Breitere, national abgestützte Trägerschaft, Diversifikation
bei der Finanzierung
- die Einrichtung des Sihlwaldes als Teil des "Europäischen Netzes biogenetischer Reservate" oder
- die Bezeichnung "Natürlicher und seminatürlicher Wald",
eine Qualifizierung, die beim Europarat in Vorbereitung ist.
Der Prozess der Planung und erst recht derjenige der Realisierung ist
derzeit noch in vollem Gang und die Frage nach einem Prädikat für
das "Endprodukt" deshalb noch verfrüht. Besser scheint es, vorerst
eine geeignete Form für das Projekt zu finden und zu erproben, und
erst im nachhinein abzuklären, ob sich das Reservat an der Sihl in
eine der zur Verfügung stehenden Schutzkategorien einordnen lässt.
Seit der Gründung der 'Leitungsgruppe Sihlwald' (vgl. 1.2 Entstehungsgeschichte) wird an der Gründung einer Stiftung 'NLS' gearbeitet. Daran beteiligt sind neben der Stadt Zürich der SBN und der ZNB sowie die Naturforschende Gesellschaft Zürich und die Schweiz. Akademie der Naturwissenschaften als Gründungsmitglieder. Langfristig sollen aber auch die Gemeinden, Vertreter des Kantons und allenfalls des Bundes in der Stiftung vertreten sein. Damit soll der Sihlwald einen ersten Schutzstatus erhalten und das Vorhaben 'NLS' breit abgestützt werden.
Eine der Grundlagenstudien hatte zum Ziel, - aufgefächert
in verschiedene Teilaspekte - das Projekt im Rahmen des geltenden (aber
nicht unabänderlichen) Rechts darzustellen (R.MUNZ 1988, J.GOTTESMANN
1988, H.RAUSCH 1988). Nachstehend sind die wichtigsten Konsequenzen in
den sehr ausführlichen Studien herausgegriffen.
Raumplanungsrecht: Das Bundesgesetz über
die Raumplanung ist dem Landschafts- und Naturschutz gegenüber positiv
eingestellt und hält zu diesem Zweck ein nützliches Instrumentarium,
insbesondere auch zur Bereinigung von entgegenlaufenden Interessen, bereit.
Dabei werden nicht Lösungen gesucht, die für alle Zeiten Gültigkeit
haben, sondern es wird die Landschaftsentwicklung als dynamischer Prozess
verstanden. Im kantonalen Planungsrecht ist u.a. der Natur- und Heimatschutz
verankert, sodass Bewahrung und Aufwertung der Landschaft ein wesentliches
Anliegen der Raumplanung ist. Gesamthaft gesehen besteht von seiten des
Raumplanungsrechts für das Projekt ein günstiges Klima.
Forstrecht: Grundsätzlich - nach Art.20 Abs.1 des neuen Waldgesetzes - ist der Wald so zu bewirtschaften, dass seine Funktionen nachhaltig erfüllt sind. Diese Nachhaltigkeit ihrerseits bezieht sich auf die im Zweckartikel formulierten Funktionen des Schutzes, der Wohlfahrt und des Nutzens; sie meint deshalb nicht nur und nicht unbedingt die Entnahme von Holz. Dem Projekt besonders günstig sind die weiteren Absätze 3 und 4 des gleichen Art.20:
- Aus ökologischen und landschaftlichen Gründen kann auf Pflege und Nutzung des Waldes verzichtet werden, soweit es Waldzustand und Walderhaltung erlauben (Abs.3)
- Es können "zur Erhaltung der Artenvielfalt von Fauna und Flora" Waldreservate ausgeschieden werden (Abs.4)
An die Schaffung von angemessenen Waldreservaten
werden vom Bund Kostenbeiträge von bis zu 60% in Aussicht gestellt.
Schliesslich findet sich in der Botschaft zum Waldgesetz eine Umschreibung
des naturnahen Waldbaus, die genau auf die Zielsetzungen des Projekts und
den bisher eingeschlagenen Weg der Umwandlung zugeschnitten scheint: "Der
naturnahe, das heisst im Hinblick auf die Schaffung dauernd stufiger Strukturen
sanfte und ökologisch ausgerichtete Waldbau trägt der Tier- und
Pflanzenwelt sowie dem Natur- und Heimatschutz in hohem Masse Rechnung".
Die übrigen Bestimmungen des neuen, dem Projekt positiv gesinnten
Gesetzes, sind von untergeordneter Bedeutung.
Umweltschutzrecht: Ziel ist nicht die Erhaltung
von Landschaften, wohl aber der Schutz derselben vor beeinträchtigenden
Immissionen. Es setzt keine materiellen oder formellen Hindernisse dem
Projekt entgegen.
Jagdrecht: im Kräfteviereck Jagd/Wildschutz/Schadenverhütung/
Walderhaltung versuchen das kantonale und vor allem das neue eidgenössische
Jagdrecht ausgleichend zu wirken; dem Naturschutz wird dabei grosses Gewicht
beigemessen. Dem Projekt ist das Jagdrecht als Ganzes mehr förderlich
als hinderlich.
Landwirtschaftsrecht: ist für das Projekt
NLS nur von untergeordneter Bedeutung und ohnehin - auch räumlich
- nur am Rand wirksam.
Recht der Erholungsnutzung (Art.699 ZGB, Betreten
von Wald; Bundesgesetz für Fuss- und Wanderwege): obwohl Erholungsnutzung
seit Erlass des ZGB 1907 Gegenstand rechtlicher Regelungen ist, wird ihr
nirgends der absolute Vorrang vor anderen Nutzungen wie Biotopschutz oder
Walderhaltung zugestanden. In Konfliktsfällen wird Erholungsnutzung
weichen müssen.
Recht der militärischen Nutzung: Die
militärische Ausbildung ist Bundessache und deshalb mit der im Natur-
und Heimatschutzrecht enthaltenen Rücksichtspflicht verbunden. Militärische
Stellen bekunden in der Regel den Willen zur Schonung von Landschaft, Vegetation
und Fauna.
Recht der wirtschaftlichen Landesverteidigung:
In Art.19 Abs.1 ist dem Bund - unter dem Titel "Nutzung einheimischer Ressourcen"
- das Recht gegeben, eine vermehrte Nutzung der Wälder anzuordnen.
Zweifellos würden in einer akuten Notlage zuerst andere vorhandene
Quellen ausgenutzt; ein Rückgriff auf Naturschutzgebiete ist aber
nicht auszuschliessen und es wäre in einer Interessenabwägung
dem einen oder anderen öffentlichen Interesse der Vorrang einzuräumen.
Recht über Verkehr und Energietransport:
Es bestehen bereits verschiedene Transportlinien im Sihlwald (Sihltalstrasse,
Sihltalbahn, Wasserversorgungsanlagen, Hochspannungsleitungen etc.), denen
die Anliegen des Projekts nicht in die Quere kommen - eher schon umgekehrt.
In kommenden Standortsabklärungen bzw. Realisierungen müsste
aber aufgrund des Natur- und Heimatschutzrechts auf die Erfordernisse des
Projekts verstärkt Rücksicht genommen werden.
Recht betreffend Wasser und Gewässer:
Gewässer unterstehen der Aufsicht von Bund und Kanton: alle Eingriffe
im Bereich derselben sind also im Einvernehmen mit den zuständigen
Behörden vorzunehmen. Erste Kontakte mit dem kantonalen Amt für
Gewässerschutz und Wasserbau haben nicht nur keine Bedenken gegen
das Projekt NLS, sondern gar grosse Bereitschaft zur Zusammenarbeit geweckt.
Zivil- und Strafrecht: Weder aus der Kausalhaftung
(Zufügung von Schaden) noch aus der Grundeigentümerhaftung ist
bei der Realisierung des Projekts ein erhöhtes Risiko für den
Waldbesitzer zu erwarten. Ein gewisses Restrisiko kann allerdings nicht
ausgeschlossen werden und besteht - wahrscheinlich in noch grösserem
Masse - auch bei bewirtschafteten Wäldern. Für eine natürlich
entstehende Gefahrensituation kann der Grundeigentümer nicht haftbar
gemacht werden; zu empfehlen wäre jedoch, das Publikum auf allfällige
Gefahren aufmerksam zu machen.
Das aussergewöhnliche, in der Schweiz und -
berücksichtigt man Tieflage und Stadtnähe - in Europa einzigartige
Vorhaben hat lebhafte Reaktionen und Diskussionen hervorgerufen. In der
Presse erschienen Schlagzeilen wie: "Urwald" von Zürich?", "Urwald
im Sihltal: Wir sind begeistert!" oder "Kanton gegen 'Urwald' im Sihltal"
etc. etc. Geäussert haben sich - fast immer zustimmend - auch Experten
aus dem In- und Ausland. Hier einige Ausschnitte:
(Prof. Dr. H. Leibundgut, 29.April 1986)
"Ein Anteil von etwa einem Drittel an sog. "Edel"-Laubbaumarten wie der Esche, dem Bergahorn, dem Spitzahorn, der Bergulme, aber auch der Linden, ist ganz aussergewöhnlich und in Mitteleuropa ausserordentlich selten. Es gibt derzeit kein vergleichbares bestehendes oder derzeit geplantes Schutzgebiet der Grösse des Sihlwaldes auf solch optimalen Standorten und mit einer so günstigen Baumartenmischung wie den Sihlwald...
Die vorhandene Mischungsform und Struktur der Bestände sind auch Garantie dafür, dass selbst in Steillagen bei einer Einstellung der Nutzung die Schutzwaldeigenschaften nicht verloren gehen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass es praktisch keine Bestände im Sihlwald gibt, die nicht unverzüglich aus der Nutzung entlassen werden könnten...
Die Verwirklichung des Projekts "Naturlandschaft Sihlwald" wäre anbetrachts der besonderen Qualität dieses Waldgebietes ein wertvoller Beitrag zum Schutz des gesamteuropäischen Naturerbes."
(Dipl. Forstwirt Dr. Hans Bibelriether, Generalsekretär
der Föderation der Natur- und Nationalparke Europas, 20.November 1989)
"Buchenreiche Wälder sind auch bei teilweiser oder gänzlicher Nicht-Bewirtschaftung entomologisch und pathologisch nicht gefährdet, ...
Das vorgestellte Konzept Naturlandschaft Sihlwald wird uneingeschränkt befürwortet. Der Sihlwald eignet sich in einmaliger Weise zu einem differenzierten Ausscheiden von Naturwaldreservaten bis Naturwald-Wirtschaftswäldern.
Die Naturlandschaft Sihlwald kann ein Meilenstein für ein grundlegendes Umdenken der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Politiker in Richtung auf eine ökologisch eingestellte, nachhaltige Lebensweise (Wirtschaftspolitik) werden, und so zu einer qualitativen Ueberlebensstrategie für kommende Generationen beitragen."
(Prof. Dr. Hannes Mayer, Institut für Waldbau,
Universität für Bodenkultur, Wien; 22.April 1986)
Selbstverständlich wurden auch negative Stimmen
laut, insbesondere in der Antwort des Regierungsrates auf die Anfrage Dr.
Werner Hegetschweiler (vom 17.Dezember 1986). In den Kapiteln, die sich
direkt mit dem Projekt NLS befassen, sollen auch kritische Argumente angeführt
werden.
Das Projekt "Naturlandschaft Sihlwald" ist zweifellos
ein Kind unserer Zeit: es musste zuvor so viel Landschaft verschandelt,
mussten so viele Kilometer Hecken ausgeräumt und so viele Tiere ihres
Lebensraumes beraubt werden, um den Wunsch nach einer Naturlandschaft in
einem Masse zu wecken, dass gesellschaftliche, wirtschaftliche und nicht
zuletzt politische Widerstände überwunden werden konnten. Darüber,
wie sich kommende Generationen über die Naturlandschaft an der Sihl
freuen oder ärgern werden, können wir heute nur Spekulationen
anstellen.
2. Künftige Wirkungen
und Leistungen des Waldes
2.1 Besonderheiten
des nicht bewirtschafteten Waldes
Manchen Anliegen des Projekts NLS wie Erholung, Entspannung,
Bildung oder Naturbeobachtung könnte auch mit einem extensiv bewirtschafteten
oder mit einem Naturwald, dessen Entwicklung gelenkt würde, genüge
getan werden. Mit der Schaffung eines Waldes indem auf jegliche Nutzung
verzichtet wird, werden aber bestimmte, weiterführende Anliegen verfolgt.
Im Vordergrund stehen die naturethischen Gedanken
(vgl. Kapitel C-1.1) wonach dem Wald ein Eigenwert zugestanden wird. Die
Waldnatur wird sich beim Ausbleiben jeglicher Gestaltungsmassnahmen ganz
anders entwickeln als in einem noch so extensiv bewirtschafteten Wald.
Eine Waldlandschaft, die von der Natur in Freiheit gestaltet wurde, wird
eine ganz andere Atmosphäre und Stimmung vermitteln als wir dies von
einem Wirtschaftswald gewohnt sind. Daneben ermöglicht der Verzicht
auf waldbauliche Eingriffe im Sihlwald aber noch weitere Perspektiven.
Dank Beobachtungen in den der menschlichen Beeinflussung
entzogenen Waldflächen wird es möglich sein, unsere Kenntnisse
der natürlichen Lebensräume und Lebensvorgänge zu erweitern.
Die dynamischen Gleichgewichte des Naturwaldes werden sich nach und nach
auf einer immer grösser werdenden und schliesslich die Gesamtheit
des Sihlwaldes umfassenden Fläche einstellen. Allerdings sind die
Umweltverhältnisse - auch abgesehen von zivilisationsbedingten Einflüssen
- nicht mehr die gleichen wie vor Urzeiten. Was letztlich - nach einem
genügend langen Zeitraum in der Grössenordnung von 100 bis 200
Jahren - zu beobachten sein wird, ist der Zustand des Naturwaldes, wie
er sich unter den dann herrschenden Bedingungen darbieten wird. Es wird
sich daraus ein natürliches Eichsystem ergeben, anhand welchem Umweltveränderungen
erfasst werden können.
Aus Naturwaldbeobachtungen kann theoretisches Wissen
gewonnen werden, das sich nutzbringend in die waldbauliche Arbeit
umsetzen lässt. Diese Ueberzeugung äusserte Stadtforstmeister
Meister schon 1912, als er forderte, sich bei der Waldbewirtschaftung von
der Biologie des Urwaldes leiten zu lassen. Praktisch verwertbare Erkenntnisse
aus der Urwaldforschung wurden dem modernen Waldbau allerdings erst nach
dem zweiten Weltkrieg zuteil. Pionier dieser Forschungsrichtung ist Prof.
Dr.H.Leibundgut, für den "die gründliche Kenntnis der natürlichen
Lebensvorgänge des Waldes" die "biologische Voraussetzung für
einen rationellen Waldbau" darstellt. Dieses Wissen vermittle vor allem
die Urwaldforschung. Unser heutiges waldbauliches Wissen beruhe noch "grossenteils
auf praktischen Erfahrungen und Forschungen, welche in naturfremden und
künstlichen Wirtschaftswäldern durchgeführt wurden". Die
Urwaldforschung rechtfertige sich aus der Erkenntnis, dass "erwünschte
natürliche, also kostenlose Vorgänge möglichst zu erhalten
und zu fördern, unerwünschte dagegen rechtzeitig zu erkennen
und im richtigen Zeitpunkt durch geeignete Massnahmen auszuschalten" seien
(Zitate aus H.LEIBUNDGUT: Europäische Urwälder der Bergstufe,
1982). Europäische Urwald- oder Naturwaldobjekte finden sich aber
nur in der Bergstufe und nicht in Höhenlagen, wie sie etwa dem schweizerischen
Mittelland und Voralpenrand entsprechen (von den 100 ha Urwald oder urwaldähnlichen
Beständen in der Schweiz liegen alle über 1'400 m ü.M.).
Die waldbauliche Forschung hat also ein vitales Interesse an einer Reservatsfläche
wie dem Sihlwald; schade nur, dass man eine solche nicht schon vor 50 oder
100 Jahren eingerichtet hat.
Von Bedeutung für die Entwicklung eines Naturraumes
ist auch der Umstand, dass mit der Einrichtung eines Reservats eine Ruhe-
und Rückbildungszone geschaffen werden kann. Es sind auf lange
Sicht keine Motorsägen, keine Traktoren oder Entrindungsmaschinen
mehr zu hören und die entsprechenden Zu- und Wegfahrten mit PKW entfallen.
Auch das äusserliche Bild wird sich ändern: Fahrspuren in den
Beständen werden einwachsen, Holzbeigen verschwinden und Beschriftungen
- wo sie nicht entfernt wurden - verblassen. Gleichzeitig wird man eine
ganze Reihe von Wegen und Strassen "zurückbauen" oder einwachsen lassen.
Ein letztes Anliegen wird es sein, die Besucherströme so zu lenken,
dass sie Kernzonen von Reservaten eher um- als durchströmen. Erst
in einem, dem menschlichen Einfluss entledigten Waldteil, wird sich echter
Naturwald entwickeln können.
Der Aufbau der Reservatsfläche wird sich
in Schritten und im Einklang mit dem Erreichen der Strukturziele im Bestandesaufbau
vollziehen. Als bald zu realisierendes Nahziel ist ein aus der Nutzung
entlassenes Areal von etwa der Hälfte der Gesamtwaldfläche -
also rund 500 Hektaren - ins Auge zu fassen. Mittelfristig, d.h in 10 bis
30 Jahren, sollten dann gegen vier Füntel des Sihlwaldes - den Sihlraum
und die offenen Flächen miteingeschlossen - der freien Waldentwicklung
überlassen werden. Eingriffe wären dann nur noch aus Rücksicht
auf benachbarte Nutzungen oder aus Gründen der Forschung bzw. Erhaltung
von kulturellen Denkmälern notwendig (vgl. Kapitel DII-2.3).
2.2 Waldbesucher
und -besucherinnen
Der Sihlwald hat eine lange Tradition als Ort der Entspannung und Ruhe,
der sportlichen Betätigung oder des gesellschaftlichen Wanderns und
Lagerns. Er zieht - wie in Kapitel B-3.8 dargestellt - Jahr für Jahr
eine grosse Zahl von Besuchern und Besucherinnen an. Zweifellos wird der
Sihlwald und seine Randgebiete auch in Zukunft eminent wichtig sein, um
das Bedürfnis der Menschen nach Natur und Erholung zu befriedigen.
Die Ansprüche der Waldbesucher und -besucherinnen werden sich je
nach Tätigkeiten - worunter so unterschiedliche Aktivitäten zu
verstehen sind wie Spazieren, Natur Beobachten, Lagern, Velofahren, Herumtollen,
Meditieren, sich Bilden, Sport Treiben, an Massenveranstaltungen Teilnehmen
usf. - nicht problemlos mit den naturethischen und naturschützerischen
Zielen des Projekts in Einklang bringen lassen. Im Rahmen der Realisierung
sind deshalb Lenkungs- oder Entflechtungsmassnahmen vorzusehen. Es wird
aber nicht zweckdienlich sein, gewisse Erholungsnutzungen, die sich mit
den Zielen der Naturlandschaft schlecht vertragen, einfach zu verbieten.
Statt dessen sind die Einrichtungen - namentlich die Erschliessung - so
auszugestalten, dass in bestimmten Teilgebieten störende Tätigkeiten
erschwert sind.
Generell sollte im Bereich des geschlossenen Waldes und in den eher abgelegenen Partien von Albiskamm und Sihlufer mit geeigneten Massnahmen auf eine Verlagerung der Erholungstätigkeiten im nachstehenden Sinn hingewirkt werden:
- von Sport zu Beobachtung, innerer Einkehr oder Meditation
- von Fortbewegung mit Fahrzeug/Sportgerät (mit Ausnahme von Rollstühlen) zu Gehen, Marschieren oder Laufen
- von schneller Bewegung zu langsamer
- von Waldbesuch in Grossgruppen zu Kleingruppen, Familien, Paaren
2.3 Bildung und
Öffentlichkeitsarbeit
Ein wichtiges Ziel des Projektes 'NLS' ist es, im
Sihlwald den Waldbesucherinnen und -besuchern ein vertieftes Wald- bzw.
Naturerlebnis zu ermöglichen. Dazu wird es nötig sein die Sinne
der Menschen zu schärfen und sie anzuleiten die, für den flüchtigen
Beobachter unsichtbaren, faszinierenden Feinheiten des Waldes wahrzunehmen.
Mit der Eröffnung der Waldschule Sihlwald im
Jahr 1986 wurde dazu ein erster Schritt unternommen. Als Ergänzung
zu diesem, an Schulkinder gerichtetes Angebot, soll mit der Schaffung einer
Informations- und Bildungsstätte in den Gebäulichkeiten des ehemaligen
Werkbetriebes Sihlwald auch den Erwachsenen die Möglichkeit für
ein intensives Naturerlebnis geboten werden. Zielpublikum eines solchen
'Naturzentrums Sihlwald' wären Tagestouristen, die für eine Wanderung
oder einen Spaziergang in den Sihlwald kommen, sogenannte Bildungstouristen,
die mit der Vorstellung kommen etwas über den Wald, die Natur lernen
zu können, dann aber auch Schulklassen der Oberstufe und nicht zuletzt
Fachleute der Forst- und Naturwissenschaften für Tagungen und Seminare.
Die Vermittlung von Informationen kann über
Ausstellungen, Exkursionen, Waldführungen, ein entsprechend gestaltetes
Erfahrungs- und Erholungsgelände oder aber über Publikationen
erfolgen. Auf Beschriftungen und Tafeln im Wald soll konsequent verzichtet
werden.
Die Planung des Bereichs Bildung erfolgt im Gestaltungsplan
"Waldlehrhaus, Waldschule, Exkursionsbetrieb". Ein Konzept dazu liegt im
Bericht "Sihlwaldhäuser" von P. Egloff und C. Cattaneo vor.
In der Naturlandschaft Sihwald wird nach Realisierung
des Projekts ein weites Forschungsfeld für Walddynamik, Botanik, Fauna,
ökologische Systeme, Archäologie, Wasserbau u.a.m. zur Verfügung
stehen. An erster Stelle wird es von höchstem Interesse sein, die
Rückentwicklung des Wirtschaftswaldes zu einem Naturwald zu verfolgen.
Diesbezügliche Veränderungen werden sich jedoch nur langsam und
auf lange Zeit bemerkbar machen. Es wird den kommenden Generationen vorbehalten
sein, die Entstehung eines Naturwaldes mit urwaldartigen Strukturen wissenschaftlich
nachvollziehen zu können.
Alle Forschungsvorhaben sollten sich an gewisse Grenzen halten, die durch die Natur des Projekts NLS gegeben sind. Abzulehnen sind Forschungsarbeiten, die:
- häufige Zu- und Wegfahrten verursachen
- im Wald gut sichtbare Beschriftungen, Bezeichnungen oder Markierungen erfordern
- nicht direkt oder indirekt mit den Anliegen des Naturlandschaft-Projekts zu tun haben
- die natürliche Entwicklung des Oekosystems
Wald in irgendeiner Weise beeinflussen.
- Fauna: Bestandeserhebung von Indikatorarten (Baummarder, div. Vögel etc.), Wiederansiedlung, Revieruntersuchungen, Besiedlung Wildbäche
- Vegetation: Entwicklung Bodenflora, Verbreitung Zeigerpflanzen
- Kulturgeschichte: Erkundung von alten Wegen und Wüstungen
- Wildbachverbau: Auswirkung Rückbau auf Geländestabilität, Erosion, Bewuchs
- Wasserbau: grosses Forschungsgebiet in Zusammenhang
mit der Renaturierung der Sihl.
Es ist Ziel des Projekts, die klassiche, heute nicht mehr wirtschaftliche Nutzfunktion im Laufe der Umstellung auf Naturwald zugunsten einer ganzen Reihe von anderen Aufgaben zurückzustellen und schliesslich ganz auf die Holzproduktion zu verzichten. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob ein solches Vorgehen zu verantworten sei und mit welchen Folgen allenfalls zu rechnen ist.
Vorerst gilt es klarzustellen: der Erholungswert
- wie er aus der Studie der Universität Zürich auch für
den Sihlwald abgeleitet werden kann (Kapitel B-3.8) - überwiegt die
chronisch defizitäre Holznutzung um ein Vielfaches. Selbst die praktisch
kostenlose Aeufnung in weiterer Zukunft von einem Holzvorrat von 500 bis
600 m3/ha verspricht als Brennstoffreserve mit einem Energieaequivalent
von rund 120'000 bis 150'000 t Heizöl eine weit grössere Kapitalbildung
als konventionelle die Holznutzung.
In einem Bericht der Vereinten Nationen ("European
Timber Trends and Prospects to the Year 2000 and beyond", New York 1986)
wird gesamteuropäisch bis zum Jahr 2000 ein Holzversorgungsdefizit
von jährlich 20 bis 35 Mio m3 Holz aus den Trends hochgerechnet. Es
bestehen allerdings - so der Bericht - auch verschiedene Möglichkeiten,
der Holzmangellage durch Einschränkung des Verbrauchs (verbesserte
Ausnutzung von Altpapier und Abfallholz), durch gesteigerte Importe von
ausserhalb Europa (tropische Holzplantagen) und durch höhere Nutzungen
in Europa selbst (hohe Vorratshaltung, Aufforstungen in "Wald-Entwicklungsländern"
wie Frankreich, Irland, England, Spanien, Portugal) Herr zu werden. Im
UN-Bericht wird deshalb - trotz der aus den Trends errechneten Unterversorgung
- nicht mit einem akuten Holzmangel im kommenden Jahrhundert gerechnet:
Produktion und Verbrauch können sich - mit Hilfe der dargelegten und
um die Preisgestaltung erweiterten Massnahmen - in einem breiten Rahmen
flexibel anpassen. Die Waldbesitzer müssen sogar - zumindest bis ins
Jahr 2000, aber wahrscheinlich auch darüber hinaus - mit gleichbleibenden
oder noch weiter gedrückten Preisen rechnen.
In einem grösseren Rahmen wird es deshalb ziemlich
belanglos sein, ob das Holz aus dem Sihlwald - sei es als Energiespender,
sei es als Nutzuholz - genutzt wird oder nicht. Die Autoren des Berichts
kommen letztlich zum Schluss, dass die sozialen Waldfunktionen schneller
wachsen werden als die Nachfrage nach dem Produkt Holz.
Die UN-Studie geht bei ihren Szenarien von Rahmenbedingungen
aus, die grössere Krisen (Kriege, akutes Waldsterben oder Energieverkanppung)
ausser Acht lassen. Im Hinblick auf solche - leider denkbare - Vorgänge
käme aber einer grösseren Vorratshaltung, wie sie das Projekt
NLS mit sich bringt, nicht geringe Bedeutung zu.
Betroffen von einer Drosselung oder Einstellung der
Holznutzung wären in erster Linie die lokalen Abnehmer, die als Akkordanten
tätigen Landwirte der Umgebung und das Personal der beiden Sihlwaldreviere.
Auf letztere wird im Rahmen der Arbeitsplanung zurückzukommen sein
(Kapitel D-III-7.1 und 7.2). Mit der allmählichen Reduktion der Holzverkäufe
werden sich die lokalen Abnehmer abfinden und die entsprechenden Umstellungen
in einer Uebergangsphase vornehmen müssen. Den landwirtschaftlichen
Akkordanten, die zur Hauptsache zur Bewältigung der Holzernte herangezogen
werden, kann im Rahmen des Projekts NLS leider kein Ersatz geboten werden:
es wird an jenen Aufgaben fehlen, für die sie Kennntisse und Ausrüstung
besitzen.