Inhalt

1. Einleitung

1.1 Soziale Organisation, Raumnutzung und Nahrungsverfügbarkeit

Die soziale Organisation vieler Tierarten hängt stark von der räumlichen und zeitlichen Verfügbarkeit der Nahrung und anderer Ressourcen ab (Bradbury & Vehrencamp 1976a+b; Jarmann 1974). Mit Bezug auf die "resource dispersion hypothesis" wird beispielsweise die Bildung sozialer Gruppen bei einigen Raubtierarten auf das Muster der Nahrungsverfügbarkeit zurückgeführt (Macdonald 1983a). So scheint beim Dachs (Meles meles L.) die Sozialstruktur und Raumnutzung vorwiegend von der Nahrungsverteilung abhängig zu sein (Cresswell & Harris 1988; Hofer 1988; Kruuk & Parish 1982).

In der Nationalfondsstudie "Adjustment of spatial behaviour of badger (Meles meles L.) in response to a heterogeneous environment" (Nr. 3100-40846.94) wird das räumliche Verhalten der Dachse in einem naturnahen grossflächigen Wald (Sihlwald, ca. 10 km2) sowie in einer intensiv genutzten Landwirtschaftsfläche (Knonaueramt) untersucht. Dabei interessiert vor allem der Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit verschiedener Nahrungsquellen und der räumlichen Organisation der Dachse. Aus Magen- und Kotanalysen weiss man, dass Regenwürmer (Lumbricidae) für Dachse eine wichtige Nahrungsquelle bilden (Henry 1984; Hofer 1988; Kistler & Misteli 1984; Kruuk & Parish 1981; Lüps et al. 1987). In England besteht die Nahrung der Dachse mengenmässig teilweise zu mehr als der Hälfte aus Regenwürmern (Hofer 1988; Kruuk & Parish 1981). Aus Untersuchungen in der Schweiz geht hervor, dass auch im schweizerischen Mittelland und in den Voralpen Regenwürmer eine wichtige Nahrungsquelle für den Dachs darstellen (Kistler & Misteli 1984; Lüps et al. 1987; Minder in Vorb.).

Bei dieser grossen Bedeutung der Regenwürmer für den Dachs liegt die Vermutung nahe, dass die Verteilung der Nahrungsquelle "Regenwürmer" die Raumnutzung des Dachses beeinflusst. Zweck dieser innerhalb der oben erwähnten Nationalfondsstudie durchgeführten Diplomarbeit war, die zeitliche und räumliche Verteilung des Regenwurmangebots und dessen Verfügbarkeit für den Dachs im Untersuchungsgebiet "Sihlwald" zu bestimmen. Dazu wurde ein Netz von Probeflächen in den drei wichtigsten Waldtypen des Sihlwaldes angelegt: in Fichten-, Buchen- und Mischwäldern. Ausgehend von diesen kleinräumig erhobenen Daten mussten auch grossflächige, dem Raummuster der Dachse entsprechende Aussagen möglich sein. Mit dem in dieser Studie ermittelten, beziehungsweise hochgerechneten, Raummuster des Regenwurmangebots wird eine Basis für eine Korrelation mit der von K. Hindenlang ermittelten Raumnutzung der Dachse geboten.

Die Daten sind zusätzlich auch für Langzeitperspektiven im Hinblick auf die im Sihlwald verfolgte und geschützte Walddynamik nutzbar. Der Sihlwald ist in grossen Teilen sehr naturnah und wird seit etwa 20 Jahren nur noch extensiv bewirtschaftet. 1985 wurde das Projekt "Naturlandschaft Sihlwald" mit dem Ziel lanciert, den Wirtschaftswald in einen Naturwald zu überführen und diesen hauptsächlich für Forschungs-, Schulungs- und Erholungszwecke zu nutzen. In diesem Zusammenhang interessierte neben der Bedeutung der Regenwürmer als Nahrungsquelle für den Dachs auch die Frage, welchen Einfluss die zukünfige Waldentwicklung ohne Holznutzung auf die Regenwurmfauna haben könnte.

 

 

1.2 Regenwürmer als Nahrungsgrundlage für Säugetiere in Wäldern

Regenwürmer stehen wegen ihres hohen Eiweissgehaltes, ihres zahlenmässig riesigen Vorhandenseins und ihrer weiten Verbreitung auf dem Speiseplan vieler Wildtiere. Innerhalb der Klasse der Säugetiere ernähren sich neben vielen Insectivoren auch einige Carnivoren wie Fuchs (Vulpes vulpes L.) und Dachs (Meles meles L.) häufig von Regenwürmern (Kruuk & Parish 1981; Macdonald 1980).

Bei den Regenwürmern unterscheidet man drei ökologische Gruppen (Edwards & Bohlen 1996). Die Gruppe der anözischen Würmer umfasst grosse Arten, die vertikale Gangsysteme im Boden anlegen. Einige Arten dieser Gruppe kommen nachts zur Nahrungsaufnahme an die Bodenoberfläche und sind dann auch für jene nachtaktiven Raubtiere verfügbar, die nicht nach Würmern graben. Sowohl der Dachs als auch der Fuchs lesen die Regenwürmer vorwiegend von der Oberfläche ab (Kruuk 1978; Macdonald 1980). Die epigäischen Würmer halten sich in der Streuschicht auf, kommen ihrer kleinen Biomasse wegen aber wohl nur bei kleinräumig hoher Individuendichte als Beute für grössere Raubtiere in Frage. In der dritten ökologischen Gruppe, den endogäischen Würmern, findet man Arten mittlerer Grösse, die sich in den obersten 20 cm des Bodens aufhalten. Sie graben horizontale Gänge und kommen nur bei starken Regenfällen an die Bodenoberfläche. Ihre zeitliche Verfügbarkeit ist deshalb für auf der Erdoberfläche jagende Räuber beschränkt und ihre Rolle als Beute von Fuchs und Dachs vermutlich untergeordnet.

Der Tauwurm (Lumbricus terrestris) ist eine der grösseren Regenwurmarten Mitteleuropas und hat eine weite Verbreitung. In der Literatur ist es die Regenwurmart, die am häufigsten als Nahrungsquelle für den Dachs angegeben wird (Hofer 1988; Kruuk 1978; Kruuk & Parish 1981). Er kommt sowohl in Wiesen als auch in Laub- und Mischwäldern häufig vor und ist nachts bei feuchter und milder Witterung an der Oberfläche auf Nahrungssuche anzutreffen (Kruuk 1978; Macdonald 1983b; Satchel 1967). Bei der Nahrungswahl bevorzugt er Blätter, die sich schnell zersetzen. Blätter von Esche (Fraxinus excelsior) und Ahorn (Acer sp.) zieht er jenen von Eiche (Quercus sp.) und Buche (Fagus silvatica) vor (Zicsi 1983). Man kann annehmen, dass auch die anderen anözischen Arten leicht abbaubares organisches Material bevorzugen.

Verschiedene Untersuchungen belegen, dass innerhalb der verschiedenen Waldtypen die Laub-/Nadelholz-Mischwälder die höchsten Regenwurmdichten und Biomassen aufweisen (Satchel 1983). Neben der Baumartenmischung haben in Wäldern noch weitere Umweltfaktoren einen Einfluss auf die Regenwurmfauna. In einer Untersuchung von Nordström & Rundgren (1974) in Wäldern Südschwedens wurden Zusammenhänge zwischen der Regenwurmfauna (Häufigkeit, Biomasse und Diversität) und der Beschaffenheit des Bodens, wie Lehmgehalt, organischer Anteil, pH-Wert und Bodenfeuchtigkeit nachgewiesen. Diese Zusammenhänge werden auch durch andere Untersuchungen bestätigt (Edwards & Lofty 1975; Gerard 1967; Phillipson et al. 1976; Skambracks 1996). Nach Philipson et al. (1978) ist für die Regenwurmfauna in Wäldern der Bodentyp wichtiger als die Baumartenzusammensetzung.

 

 

1.3 Fragestellungen und Erwartungen

Um die räumliche und zeitliche Verteilung der Regenwürmer im Sihlwald ermitteln zu können, musste abgeklärt werden, welche Umweltfaktoren diese Verteilung beeinflussen. Da die Böden im Sihlwald weitestgehend zwei sehr ähnlichen Bodentypen zugeordnet werden können (Frei et al. 1980) und auch die Klimaverhältnisse innerhalb des Untersuchungsgebietes sehr ähnlich sind, wurde erwartet, dass die Regenwurmfauna hauptsächlich vom Waldtyp (Baumartenmischung) abhängig ist. Mit der Aufnahme weiterer Umweltfaktoren sollte abgeklärt werden, inwieweit die erwarteten Unterschiede der Regenwurmfauna zwischen den Waldtypen sowie die Variation innerhalb der Waldtypen mit diesen Umweltfaktoren korrelieren.

Für die Schätzung der Verfügbarkeit war zudem die Erhebung des Artenspektrums wichtig. Für den Dachs sind jene Regenwurmarten am besten verfügbar, die sich nachts an der Oberfläche aufhalten. Die Artenzusammensetzung und die Beziehung der Regenwürmer zu den verschiedenen Umweltfaktoren liefern ausserdem wichtige Kenndaten, um den Einfluss der Waldentwicklung auf die Regenwurmfauna abschätzen zu können.

 

Der vorliegenden Arbeit wurden die folgenden Fragen zugrunde gelegt :

  1. Welche Regenwurmarten kommen im Sihlwald vor?
  2. Wie hoch ist die Individuendichte und die Biomasse der Regenwürmer in den drei häufigsten Waldtypen: Fichten-, Buchen- und Mischwälder?
  3. Welche Umweltfaktoren beeinflussen das Angebot und die Verfügbarkeit (Oberflächenaktivität) von Regenwürmern sowie deren räumliche Verteilung im Sihlwald?
  4. Welche zeitliche und räumliche Verteilung weisen das Angebot und die Verfügbarkeit der für den Dachs wichtigen Nahrungsquelle "Regenwurm" im Sihlwald auf?
  5. Welchen Einfluss könnte die natürliche Waldentwicklung im Sihlwald auf die Regenwurmfauna haben?

Die ersten drei Fragen bildeten den "regenwurmspezifischen" Teil dieser Feldstudie. Aufgrund der in Kapitel 1.2 (Seiten 3+4) beschriebenen Literaturangaben wurde erwartet, dass die vorhandene Regenwurmbiomasse und -Dichte in Mischwäldern mit Buche (F. silvatica), Esche (F. excelsior) und Fichte (Picea abies) höher als in reinen Buchenwäldern und in diesen wiederum höher als in reinen Fichtenwäldern ist. Mit den drei erwähnten Waldtypen wurden alle im Sihlwald quantitativ erheblichen Waldflächen einbezogen.

Die Fragen 4 und 5 bedingten eine Hochrechnung des Regenwurmangebots beziehungswiese der Verfügbarkeit auf den Gesamtraum. Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, abzuschätzen welche Masse an Regenwürmern tatsächlich für den Dachs verfügbar ist. Da ein grosses Regenwurmangebot normalerweise in der Häufigkeit anözischer Arten begründet liegt (Bieri et al. 1983; Nordström & Rundgren 1974), wurde erwartet, dass die Masse der nachts auf der Erdoberfläche aktiven Regenwürmer von der gesamthaft vorhandenen Biomasse an Regenwürmern abhängig ist. Denn nur die anözischen Arten kommen nachts zur Nahrungssuche an die Oberfläche und sind dann für den Dachs verfügbar.

Inhalt